26 Schritte

Yorick Schmit

English translation

Es sind genau sechsundzwanzig. Ich habe sie gezählt, mehrmals. Öfter als mir lieb ist. Vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer. Und wieder zurück. Ich kann die Strecke mit geschlossenen Augen gehen – trotz Hügeln von Altpapier und blauen Tüten mit Plastikflaschen, die sich überall in der Wohnung stapeln. Sind die Recyclingzentren geöffnet? Wohl kaum. Eins, zwei, drei, vier… hin und wieder zurück. Stunde um Stunde, Tag um Tag. Nach einer Woche vor dem Laptop – rote Augen und schmerzender Rücken inklusive – hatte ich beschlossen, Gehen sei die gesündere Option. Manchmal bleibe ich kurz beim Fenster stehen. Strahlender Sonnenschein über leeren Straßen. Rosa Blüten zwischen grauem Beton. Ältere Menschen mit Hund, Familien mit Kleinkindern. Nur hie und da eine Maske im Gesicht. Wo ist die Krise?

Manchmal versuche ich zu meditieren, meistens schlafe ich dabei ein. Ein paar Hanteln liegen ungenutzt in der Ecke. Seit Beginn der Krise habe ich drei Kilo zugenommen. Es werden sicherlich noch mehr werden. Seit kurzem widerstehe ich der Versuchung, den Kühlschrank jede halbe Stunde zu öffnen. Ein leerer Kühlschrank bedeutet: Warteschlange vor dem Supermarkt, Hustenanfall zwischen Konservenregalen, sogar jetzt noch: Randale um die letzte Klopapier-Packung. Das muss nicht sein. Also lieber fasten.

Ich überlege, ob ich mir einen Mundschutz schneidern soll. Im Internet gibt es mehr als genug Tutorials. Aber WHO und RKI sagen: Masken bringen´s nicht. Nur für Infizierte und Menschen in systemrelevanten Berufen.

Systemrelevant? Ich bin nicht systemrelevant. Ich darf in meiner Wohnung hocken. Meine größte Angst ist, dass das Internet ausfällt und ich mich mit mir selbst beschäftigen muss. Der Mensch, der einem morgens im Badezimmerspiegel entgegenblickt, ist keine gute Gesellschaft. Wie viele privilegierte “Home-Officeler” müssen sich dies momentan eingestehen?

Ich gehe. Sechsundzwanzig Schritte. Jeden Tag. Was habe ich doch für ein Glück.