Sandra Schmit
Pluff. Ein fetter Regentropfen landete mit einem befriedigenden Plop in meinem Bierbecher. Nicht schlecht. Ich positionierte das lauwarme Gebräu zwei Millimeter nach rechts und wartete. Plop. Ratsch in die Mitte. Volltreffer!
Ingrid lachte. “Da haben wir nun die einzig offene Fressbude im ganzen Prater gefunden und du hälst dein Bier freiwillig raus in den Regen.”
Ich schüttelte den Kopf. “Nicht raus. Genau unter den Überdachungsrand. Dafür ist so ein Unterstand schließlich gedacht. Da gibt’s die dicksten Regentropfen gratis zum Bierchen dazu. Das Geniesel da draußen würde die Getränke doch nur verwässern. Kann ja keiner wollen.”
Ingrid trat von einem Fuß auf den anderen. “Es tut mir so wahnsinnig leid, dass es pausenlos regnet,” seufzte sie zerknirscht.
“Hast du den Regen etwa bestellt?” lachte ich. “Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Laune. Wien ist auch bei Regen toll.” Ich biss in meinen verkohlten Veggieburger. Furztrocken und fetttriefend. Beides zusammen schon fast wieder ne Meisterleistung. Das Ding hatte wohl stundenlang in der Warmhaltewanne auf ein Opfer gewartet.
Ingrid warf mir ein schiefes Lächeln zu. “Ich hatte mir den Urlaub bei meiner Oma blos ein bisschen weniger trostlos vorgestellt.”
“Österreich Anfang März, da kann man keine Hitzewelle erwarten.” Ich nahm einen Schluck Bier. “Und deine Oma ist gar nicht so übel.”
Meine Freundin zuckte nur mit den Schultern. Ich wusste schon, was sie dachte. Nicht lügen. Viertes Gebot oder so. Ingrids Großmutter lebte seit dem Tod ihrer Mannes allein, die einzige Tochter hatte nach Luxemburg geheiratet. Die jahrelange Einsamkeit schien der Frau nicht besonders zu bekommen. War ja auch kein Wunder. Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Steht schon in der Bibel. Was damals im Paradies galt, ist sicher auch heute nicht falsch. Die Leute müssen endlich wieder auf das Wort Gottes hören. Hatte Ingrids Oma erst gestern abend festgestellt, als sie im Fernsehen den Wetterbericht hörte. Und jetzt haben wir die Sintflut.
Ich wischte mir einen Regentropfen von der Stirn. “Immerhin war sie einverstanden, dass du ne Freundin mitbringst, und das gleich für zehn Tage. Let’s go, Andy Borg wartet. Wir haben’s deiner Oma versprochen.”
“Da staunt ihr, was?” Ingrids Oma hielt mir die Plätzchendose hin. “So was habt’s in Luxemburg net.”
“Doch, meine Großmutter kuckt den Schlager-Spaß auch.” Ich biss höflich in einen Keks. Selbstgekauftes Sandgebäck. Ein Hauch Atacama. “Sehen Sie, die EU hat auch Vorteile. Europaweiter SWR-Empfang.”
Ingrid prustete in ihren Kaffee. Ihre Großmutter warf ihr einen forschenden Blick zu. “Hast dich erkältet. Bei dem Wetter durch die Stadt rennen.”
Ich nahm noch einen staubigen Bissen. Meine Speicheldrüsen stöhnten. “Als Kind kannte ich Tonnen Schlager auswendig.”
Ingrids Oma nickte. “Ja, und heute hörts des neumodische Teufelszeug.”
Vielleicht hätte ich Rammstein nicht erwähnen sollen. Aber man konnte ja nicht ahnen.
“Gott im Himmel.” Die alte Frau schüttelte den Kopf.
“Der kommt schon klar,” meinte ich beruhigend. “Wer weiß, vielleicht ist er ja auch Rammstein Fan. Unser Herrgott soll schließlich vollkommen sein. Da gehört guter Musikgeschmack dazu.” Ich schob die letzten Krümel in den Mund, wollte etwas hinzufügen und schnappte nach Luft.
Als ich die Hustenattacke endlich unter Kontrolle hatte, nickte Ingrids Oma befriedigt. “Des kommt von der Gotteslästerung.”
Ich hätte Lust, jetzt zu gehen. Aber schließlich war ich Gast hier im Haus. “Können wir vielleicht nicht über Religion reden? Das kann ja jeder halten, wie er will,” meinte ich versöhnlich.
“Wie er will! So weit kommt’s noch!” Die Frau schlug so unerwartet die Hände zusammen, dass ich erstaunt zusammenzuckte. “Des ist ja wie bei den Atheisten.”
“Wieso Atheist?” Ich setzte meine Kaffeetasse vorsichtig ab. Nur keinen Fleck machen und noch einen Gotteslästerungsbeweis liefern. “Die Existenz eines höheren Wesens zu leugnen wäre ja vermessen, und zudem ziemlich dumm. Bandwürmer zum Beispiel verbringen ihr ganzes Leben im Darm von Wirbeltieren, aber die guten Dinger haben mit ziemlicher Sicherheit keine Ahnung davon, was ein Mensch überhaupt ist. Geschweige denn, was für Hoffnungen, Gefühle und Träume er hat. Obwohl sie als Parasiten völlig vom Menschen abhängig sind und, wer weiß, sein Gefühlsleben wohl auch nicht wenig beeinflussen. Logisch betrachtet ist die Wahrscheinlichkeit, dass gerade der Mensch den großen Durchblick hat und ein ihm intellektuell weit überlegenes Wesen überhaupt erkennen, geschweige denn begreifen könnte, so gut wie null.”
Meine Gastgeberin schnappte nach Luft. “Jessasmaria, das sind ja Teufelsworte! Homo corona …”, sie war mit ihrem Kirchenlatein am Ende, “Der Mensch ist die Krone der Schöpfung!”
“Urbi et orbi und amen,” meinte Ingrid zustimmend, worauf wir uns möglichst schnell auf unser Zimmer verkrümelten.
“Die Hand etwas höher und mehr nach rechts. Und ein klein bisschen nach vorne. Ja, perfekt.”
Ingrid machte noch ein Foto und reichte mir das Handy. Ich zoomte das Bild größer und betrachete es kritisch. Ja, sah fast so aus, als ob ich den Dom zur Seite drücken würde. Süß.
Während ich Ingrid durch den Taubenschwarm auf dem Stephansplatz folgte, begutachtete ich selbstverliebt die Schnappschüsse der letzten halben Stunde und klickte ich mich durch diverse Freunde und Verwandten, die unverzüglich mit meinen Urlaubshighlights beglückt werden mussten. War es gestern im Prater noch ungemütlich kalt und verregnet gewesen, so zeigte sich Wien heute von seiner besten Seite. Die Sonne strahlte mit unserer guten Laune um die Wette, und der Himmel lieferte für alle Fotos ein leuchtend sattes Blau als Hintergrund. Perfekt instagramierbar.
Ich klappte das Handycover zu und griff nach meiner Ledertasche über der Schulter. Mein Herz rutschte eine Etage tiefer. Ich blieb stehen.
“Was ist?” fragte Ingrid.
“Ich hab meine Tasche stehen lassen.”
“Waaas? Wo?”
“Keine Ahnung. Wohl am Stephansdom. Ich hab sie abgestellt, als wir das letzte Foto gemacht haben.”
Ingrid starrte mich wortlos an. Eine Ledertasche zehn Minuten allein im beliebtesten Taschendiebrevier Wiens. Egal, die Hoffnung stirbt zuletzt. Wir sprinteten los.
“Des ist die Strafe Gottes.”
Ich verdrehte genervt die Augen. Diese Monomanie ging mir gehörig auf den Wecker. Das kam davon, wenn man rund um die Uhr Religionssender guckte. Du bist was du isst müsste in unserm Medienzeitalter treffender heißen: Du bist was du siehst. Dabei war die gute Frau eigentlich ein vom Aussterben bedrohtes Exemplar: die Gottesreligionen hatten doch längst dem Kult um Brexit und Greta, und das Jüngste Gericht der alljährlichen Viruspanik Platz gemacht.
“Vielleicht hat sie ja wer mitgenommen und zur Polizei gebracht,” meinte Ingrid aufmunternd.
Ihre Großmutter schüttelte energisch den Kopf. “Des habts nun davon, die ist weg. Wer nicht glauben will, muss fühlen. Aug um Auge, Zahn um Zahn.”
“Ich dachte, wir sind Christen,” platzte es aus mir raus. “Wie wäre es mal mit Liebe deinen Nächsten wie dich selbst? Ein bisschen Menschenvertrauen, und ja, meinetwegen auch Gottvertrauen. Ich ruf jetzt die Polizeistation an und frag nach.”
Im wütenden Ein-Zeigefinger-Modus googlte ich mich blitzschnell zum Polizeirevier am Stephansplatz durch. Das hätte ich gleich machen sollen.
Die Beamtin war mitfühlend, doch leider war keine Ledertasche abgegeben worden. Ich solle mir da keine Hoffnung machen. Ich bedankte mich und starrte auf die Stadtkarte im Handydisplay. Die Polizeiinspektion in der Goethestraße wäre auch noch ne Möglichkeit. Google Maps is your friend. Ich klickte die Nummer an.
Ingrids Oma schüttelte ob so viel starrköpfiger Hartnäckigkeit nochmals den Kopf und verzog sich in die Küche. “Ihr waschts euch jetzt besser die Hände. Gleich gibts Vesper.”
Ingrid blickte ihr zerknirscht nach. “Eigentlich ist sie eine wirklich liebe Frau.”
Sicher war sie das. Nur grad heute nicht, und nicht mit mir. Aber meine Freundin hatte schon Recht. Eine einzelne schrullige Frau war immer noch umgänglicher als ein fanatisierter Mob, egal welcher Ausrichtung. Der Klington verstummte und eine gelangweilte Männerstimme meldete sich.
“Guten Tag, ich hab meine Tasche am Stephansdom stehen lassen und wollte nachfragen, ob sie jemand bei Ihnen abgegeben hat.” Ich merkte selbst, wie blöd das klang.
“Farbe?” nuschelte es aus dem Handy.
“Die Tasche?”, fragte ich erstaunt. “So altrosa-grau.”
“Inhalt?”, kam die nächste, immer noch gelangweilte Frage.
“Haben Sie denn eine Tasche gefunden?”, wollte ich wissen.
“Inhalt.”
“Zwei Lippenstifte, kleiner Notizblock, Kugelschreiber, Taschentücher, eine Wollmütze… was noch?… ein paar Kondome, ach ja, und eine Brieftasche. Da wären dann auch mein Führerschein und mein Ausweis drin.” Ich gab dem Beamten meinen Namen durch.
“Ja, so was haben wir hier.”
“Ehrlich jetzt?” Ich konnte es nicht glauben.
“Ja. Das Geld hat er aber mitgehen lassen. Grad mal 20 Euro drin gelassen, und nur noch eine Kreditkarte.”
“Ja, mehr war nicht drin,” hörte ich mich sagen.
Kurze Zeit später hielt ich meine Tasche samt Inhalt unversehrt wieder in der Hand. “Und der Finder hat wirklich keinen Namen hinterlassen? Ich würde mich gerne bedanken.”
Der Beamte schüttelte den Kopf. “Das war so’n Komischer. War gleich wieder weg. Hatte sicher Dreck am Stecken.”
Sein Kollege lachte.
“Also das Geld ist noch alles da,” verteidigte ich spitz meinen unbekannten Wohltäter. Dass der Beanie fehlte behielt ich für mich. Nicht, dass die am Ende noch ‘ne Fahndung auf den armen Mann ausriefen.
“Des wusst ich, dass du die wiederkriegst,” meinte Ingrids Oma mit Genugtuung. “Ich hab extra ein Ave Maria für dich gesagt.”
Also wenn ich meine Tasche verliere ist es Gottes Wille, und wenn ich sie wiederfinde auch? Das ist wie bei ner Krankheit: Patient geheilt, war’s die Medizin, stirbt er, war halt nichts zu machen. Bleibt der Patient jedoch zu Hause und wird besser, war er wohl nicht wirklich krank. Aber wehe er stirbt, dann fällt das schon fast unter Selbstmord.
“Hauptsache sie ist wieder da,” lächelte ich meine Gastgeberin erleichtert an. Wozu streiten.
“Und was anderes hasts net vermisst?” Sie schmunzelte verschmitzt und verschwand im Flur. “Des lag heute morgen ratsch in der Mitte von ‘ner Pfütz vor der Haustür. I habs dir mit gewaschen.” Sie reichte mir meinen Beanie.
Ich starrte verblüfft auf die verloren geglaubte Mütze. Und da hatte ich doch tatsächlich meinen Wohltäter verdächtigt!
Ich drückte die Mütze an mich. “Mmh, riecht das gut. Danke. Ich würde wohl noch meinen Kopf verlieren, wenn er nicht angeschraubt wäre.”
Ingrids Oma strich mir gerührt über den Kopf. “Mir sans doch alle mal a bisserl schusslig.”
“Des samma,” nickte ich und lachte.