von Jean-Marie Braconnier
Jemand muss unsere Kinder verraten haben, denn ohne dass sie etwas Böses getan hätten, wurden sie eines Tages bestraft. Bis heute wundere ich mich, warum denn niemand gejammert hat, ja aufgeschrien hat, als die Kinder vertrieben wurden, verscheucht aus allen Städten und Dörfern. Einen elenden Klagegesang hätte ich erwartet, doch weit gefehlt. Nur schlimmstes Stillschweigen. Wen schon sollte man beschuldigen, wenn alle Komplizen sind? Und wo kein Kläger, da kein Richter, der den Verrat an unseren Kindern gesühnt hätte. Nein, die Schandtat endete mit einem fulminanten Freibrief für die Obrigkeit.
Grandios befugt also karrt die Administration die Kinderschar zusammen, in aller Früh, um sie in trostlose Depots zu verfrachten. Hinter penetranten Holzfassaden und verlogenen Farbtupfern verwalten Auftragserzieher nunmehr die Existenz der Verbannten. Tag für Tag, vom Morgengrauen bis in die Nacht hinein. Gelegentlich nur kann man sie beobachten, diese vorgeschobenen Betreuer, wenn sie ihre Schutzbefohlenen im Gänsemarsch zur Schule geleiten, mit trägen Befehlen und lustlosem Gebaren. Da möchte ich doch mal wissen, wenn ich die wohlbehütete Trauerprozession so sehe, wie all dies Kinderelend einmal zu Poesie reifen soll.
Wie armselig muss er doch aussehen, der Erinnerungsschatz von Kindern, denen zaudernde Eltern die Schulwege untersagt haben. Herrlich gewundene Wege, die doch stets zum Leben anstachelten. Und zum Mitnehmen einluden: das Erhellende, das Fesselnde und tausend listige Tricks. Das lässige Bummeln in vertrauter Bande, das rituelle Stehenbleiben vor ködernden Schaufenstern, das wagemutige Spionieren in bröckelnden Hinterhöfen, niemand wird je wieder Glorreiches darüber berichten können. Nun, da auch das letzte Talent fürs Mysterium versteinert ist, und der letzte Instinkt fürs Brenzlige kläglich verkümmert, tragen all die schummrigen Nebenwege und Seitengassen nur noch stille Trauer. Die Burg der Abenteuer ist verwaist.
Als wagemutige Chronisten haben die Kinder stets die Geschichten der Straßen gesponnen, meist wohlwollend, manchmal böswillig. Doch nur die Fantasiebegabten unter ihnen vermochten in die wunderliche Welt der Lokalhelden einzudringen. Weil sie neugierig waren und nah genug herankamen. Ohne den Vorwitz dieser Zaungäste aber, so befürchte ich, werden all die Sonderlinge und Käuze nun kümmerlich vereinsamen. Hinter fortan verschlossenen Fenstern. Das Thema der Straße, seit Ewigkeiten schien es im Einklang mit dem Lärmen der Kinder, dem Rufen der Mütter, dem Mahnen der Kirchenglocken und dem Kläffen der Hunde. Nun aber fehlt das alles Verbindende, da die Kinder, die schmuddeligen und all die anderen, nicht mehr die Gassen rauf und runter poltern. Kinderlose Straßen sind Orte ohne Botengänger. Für liebe Grüße, üble Drohungen und glühende Offenbarungen. Per SMS tauschen sich jetzt alle aus, die Einsamen, die Schrägen und die heimlich Verliebten. Welch eine Tragödie.
Ein ganzes Dorf braucht es, so lehrt uns ein übel strapaziertes Sprichwort, um ein Kind zu erziehen. Und nie fehlt der irrsinnige Hinweis auf den afrikanischen (!?) Ursprung dieser Zauberformel. Doch, wer würde es bestreiten, der Satz kommt wundersam weise daher. Weil er, scharfsinnig vorausschauend, weder unwillige Eltern noch halbwüchsige Aufpasser erwähnt. Weil er, herrlich gewieft, keine säuerlichen Gebote aufdrängt, die das kindliche Gemüt zukleistern. Nein, der Gedanke würdigt all jene, die in stiller Übereinkunft ihre Trumpfkarten weiterreichen, von einer Generation zur anderen, wie ein einstudierter Tanz. Kurzum, er adelt das Gesetz der Straße. Nach dem, elementare Physik, Frechheiten gegenüber einem ausgewachsenen Spielplatzschurken stets mit einer blutverkrusteten Lippe enden. Nach dem, nicht weniger grundsätzlich, ein verschossener Fußball nie von alleine aus Nachbars Garten zurückspringt, und tatterige Menschen sich durchaus flink bewegen, wenn es darum geht, einem Frechdachs die Ohren langzuziehen. Überaus heilsame Lektionen also, die, ach so sinnlos, aus der Erfahrungswelt der Kinder gestrichen wurden.
Schlimmer noch: der üble Zeitgeist hat den Wald in die Märchenwelt zurückgedrängt, zu einem verwunschenen Ort degradiert, aus dem man nur mit viel Glück wieder lebend herauskommt. Über Nacht zugefrorene Tümpel locken seit Jahren umsonst; wie denn könnten sie noch vereinen, da ihre Namen aus dem gemeinsamen Gedächtnis verschwunden sind. Nichts will ich verklären, keine Vergangenheit glorifizieren, und doch trauern um all die schwerelosen Nachmittage, an denen die Zeit stillstand. Klagen, da die Kinder verlernt haben, als Bewunderer anzutreten. Vor dem maßlosen Himmel, dem ewigen Wind und den grünschimmernden Wiesen. Vor dem Habicht und dem Eichelhäher, diesem famosen Lehrmeister, der kein Geheimnis des Waldes für sich behalten kann.
Da mutet es doch gerade zynisch an, wenn die Natur sich nunmehr einer Heimtücke bedient, um die Kinder zurück in ihr Reich zu locken. Eine pandemische List, man glaubt es kaum, versöhnt die Kinder mit all dem Grün. Ganz zaghaft und verdattert nur wagen sie sich in die Schattenwelt unter dem Blätterdach. Doch man kann ihre Spuren sehen, auf längst vergessenen Waldwegen: Steine und Äste, zu Zeichen geformt. Bruchstücke einer wiedergefundenen Kindheit. Die Zeit, so ist zu befürchten, wird sie bald schon wieder verwischen.
Landschaft bei Liefringen. Photo: Ming Cao.